Mit dieser Festschrift möchten Freunde, Kollegen und Schüler Dieter
Richter zu seinem fünfundsechzigsten Geburtstag beglückwünschen, ehren und herzlich
grüßen. In ihrem Titelbeginn „Reisen, Erkunden, Erzählen“
spricht sie Bereiche an, denen sich der Jubilar selber in seiner Lehre
und Forschung so produktiv wie anregend zuwendet; mit dem Titelzusatz
„Bilder aus der europäischen Literatur und Ethnologie“ verweist sie auf
ein besonderes Motiv und Movens seines wissenschaftlichen Interesses,
nämlich: kulturgeschichtliche Phänomene als Quelle von literarischen
Bildern zu erkennen, wie sie, zunächst im Geschmack ihrer Zeit beheimatet,
auf weiteren Stationen ihres historischen und geographischen Weges in
veränderlicher Fokussierung, Spiegelung und Tönung jeweils neu
entworfen werden.
Den Gewinn der Auseinandersetzung mit diesen Bildern vermittelt Dieter
Richter uns durch sein thematisch weit gefasstes Oeuvre: Wir erfahren
von ihrem ursprünglichen Gegenstand - sei dies die Gestalt des Pinocchio,
das europäische Volksmärchen oder die Reise im Zimmer -, können
uns mit seinen unterschiedlichen Darstellungen vertraut machen und vermögen
schließlich die eigene Sicht sowohl auf das Thema als auch seine
Variationen zu prüfen, in ihrer Qualität und Bedingtheit zu erkennen. Ein
didaktisches, ein aufklärerisches Verfahren im besten Sinne wird uns hier
nahegelegt, verharren wir am Ende solcher Ausfahrten doch nicht im
„nosce te ipsum“, sondern fühlen uns zu weiterer Betrachtung und
Auseinandersetzung erfrischt und ermuntert. Diesen Appetit weckt der Autor
Dieter Richter zudem vermittels seiner anregenden Darstellung, gewandt
und gründlich, quellenfreudig ganz ohne staubige Schubladen-Verstiegenheit,
fern jeden akademischen Mode-Jargons und mit immer wieder durchschimmernder,
nicht versiegender Neugier. Nach solcher Lektüre fühlt man
sich gestimmt, ohne Verzug zur nächsten Erkundung aufzubrechen und so
den Rat zu befolgen, den der Jubilar seinen Lesern zum Beschluß des
literatur- und ortsgeschichtlich so ergiebigen Streifzuges „Der brennende
Berg. Geschichten vom Vesuv“ gibt, nämlich: „[...] gleichzeitig zu reisen
und zu lesen - und so die historischen Lesarten einer Landschaft zu gewinnen,
in deren Spiegel auch die eigenen kenntlicher werden.“
Den Faden des Reisens, Erkundens und Erzählens nehmen die in dem
Band versammelten heutigen und früheren Weggefährten und Schüler von
Dieter Richter auf und spinnen ihn weiter. In je eigener Sicht und Gewichtung
stellen sie dieses zentrale Motiv menschlicher Erfahrung und Mitteilung
ins Spielfeld der literarischen, der künstlerischen und auch der
musikalischen Darstellung:
Im Zusammenhang des Reisens, erster Hauptabschnitt des Bandes, erfährt
der Leser von wirklichen, vorgestellten und literarisch bearbeiteten Begegnungen
mit der zuweilen so nahen „Fremde“. Dann kann er sein Verständnis
der Reise ausweiten und einen Blick auf die - allein rationalem
Denken unzugängliche - Zwischenwelt geflügelter und andersartig mobiler
Wesen zwischen Himmel und Erde tun, die dem irdischen Waller Trost
und Beistand, aber auch Unruhe, selbst erotisches Vergnügen, zu bieten
vermögen.
Die Erkundungen des zweiten Hauptabschnittes gelten zunächst den Figuren
des europäischen Volksmärchens bei ihrer Bewegung im erzählten
Raum und im Erzählraum, den Spiegelungen des märchenhaften italienischen
Nationalhelden Pinocchio außerhalb seiner Heimat und den unterschiedlichen
Wegen identischer Märchenhelden als Beispiel des domestizierenden
Übertrags von der mündlichen in die schriftliche Erzählform.
Sodann geht es um die Deutung gesellschaftlicher Entwicklungen und
Momentaufnahmen, es geht um Zäsuren, Wandlungen und Zwischenstationen
vom Siebzehnten Jahrhundert bis zur Jetztzeit. Einige dieser
Beiträge lassen ahnen, daß das Selbstverständnis einer Epoche bereits
Zeitgenossen als fragiles, in sich unstimmiges Bild erschienen sein mag;
dies liegt im Falle der barocken „Spielgesellschaft“ nahe, mehr noch bei
der Dokumentation eines Bremer Kriminalverfahrens von 1673: Die feste,
gefällige Hand des Gerichtsschreibers vermittelt uns einen Eindruck von
der Rechtlichkeit und Redlichkeit des calvinistischen Bürgertums, dieselbe
Hand aber protokolliert am Ende der Akte ohne ein mitfühlendes Zittern die
Hinrichtung der Delinquentin, einer durch gesellschaftliche Konvention und peinliche
Verhöre in die Enge getriebenen Dienstmagd.
Der dritte Hauptabschnitt wendet sich dem Erzählen zu, Ursprung der
literarischen, Teil auch der künstlerischen und musikalischen Gestaltung:
Von autobiographischen Spuren im literarischen Werk einerseits, von der
Montage des erinnerten „Selberlebens“ nach literarischen Mustern andererseits
erhält der Leser Kunde, dann werden Facetten des Wechselspiels
zwischen Erzählen und Plastik, Bild, gewerblichem Kunstwerk sowie -
ebenso konzise wie spannungsreich - mittelalterlicher Buchillustration
beleuchtet. Der faszinierenden Entsprechung von musikalischer und literarischer
Darstellung, jedem Singenden präsent und doch in ihren Mitteln
und Wegen kaum eindeutig zu entschlüsseln, wird am Beispiel eines
Schubert-Liedes nachgegangen, außerdem im schriftstellernden Umfeld
Carl Philipp Emanuel Bachs. Zum Beschluß des letzten Abschnittes wenden
sich zwei Beiträge einem großen Thema Dieter Richters zu, dem Erzählen von der Kindheit im Gedicht.
Ohne tatkräftige Mitwirkung und Unterstützung von verschiedener Seite
könnte ein solches Sammelwerk nach erster Aussaat nicht keimen, weiter
heransprießen und schließlich zur Reife gelangen. Es gilt. Dank abzustatten,
Dank zunächst den Beiträgem: von Anfang an erschien ihnen allen
eine Festschrift für Dieter Richter als etwas Selbstverständliches, ja Notwendiges.
Fast jeder wußte, meist inspiriert von der eigenen Begegnung
mit dem Jubilar, direkt sein Thema und konnte es dann beizeiten in die
angemessene Form gießen. Herzlicher Dank für die Förderung dieses
Buches gebühren Rektor und Kanzler der Universität Bremen sowie den
Fachbereichen 9 und 10. Zu danken ist schließlich Victor Ströver, Fritz
Suhr und besonders Susanne Regener, die an der Planung und Entwicklung des Bandes beteiligt waren.
Dem Jubilar aber danken die Beiträger, hier stellvertretend für einen
ansehnlichen weiteren Kreis von Freunden, Kollegen und Schülern, für vielerlei
empfangene Unterrichtung, Unterhaltung und Anregung. Von ihm
wünschen sie sich, durchaus auch eigennützig, weiteres Erkunden und
Erzählen; für ihn wünschen sie Gesundheit und Schaffensfreude in einem
neuen Lebensabschnitt. Der Übergang dorthin wird ihm angesichts seiner
vielfältigen Interessen und produktiven Neugier keine wirkliche Zäsur
sein.
Michael Nagel