Moritz Csáky

„Es gibt eine Überlieferung, die Katastrophe ist“

Die Mehrfachcodierung von Gedächtnis und Erinnerung in Zentraleuropa

Band 7 der Reihe "Pressburger Akzente: Vorträge zur Kultur- und Mediengeschichte", herausgegeben von Sabine Eickenrodt und Jozef Tancer

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Cover des Buches

Titel:

Moritz Csáky:

„Es gibt eine Überlieferung, die Katastrophe ist“. Die Mehrfachcodierung von Gedächtnis und Erinnerung in Zentraleuropa

76 Seiten

ISBN:

978-3-943245-73-8

Preis:

EUR(D) 9,80

Die Berufung auf eine Überlieferung, auf Tradition, ist nicht nur für die Selbstbestimmung von Individuen, sondern auch für die sozialer Gruppen wesentlich. Sie ist die erinnernde Einübung in ein vermeintliches Wertesystem, das für die Bildung und Festigung von Identität als konstitutiv angesehen wird. Dabei stellt sich jedoch die Frage, ob die Berufung auf eine Tradition stets als positiv angesehen werden kann. Denn oft entlarvt sich eine Überlieferung als zeitbedingtes Konstrukt, verdankt sich einer gezielten Implementierung von ideologischen Vorgaben. Ein unreflektierter Bezug auf eine solche Tradition kann sich daher als eine Katastrophe erweisen (so Walter Benjamin). Nationale Traditionen sind zumeist Mythen, die es zu dekonstruieren gilt; vor allem, wenn man sich klar macht, dass die Vergangenheit sich als ein komplexer Text erweist, der eine Vielzahl von Lese-, Verständnis- und Interpretationsmöglichkeiten offen lässt.

Zentraleuropa mit seinen gesellschaftlichen, kulturellen und sprachlichen Pluralitäten, Differenzen und Widersprüchen ist ein solcher komplexer Text, eine „Semiosphäre“, deren Kennzeichen ihre Heterogenität ist, ein Raum, der aus einer Myriade von Zeichen besteht und folglich von zahlreichen Grenzen durchzogen ist, die zwar trennen, zugleich jedoch auch verbinden. Eine solche Semiosphäre „mit real-territorialen Zügen“ (Jurij Lotman) ist auch der ehemalige habsburgische Vielvölkerstaat. Er wurde zu Recht als ein „Staat der Kontraste“ bezeichnet, der eine ethnisch, kulturell und sprachlich „eigentümlich gemischte Bevölkerung“ aufzuweisen hatte (Friedrich Umlauft). Aus der Perspektive postkolonialer Theorie erweist sich die „Grenze“ innerhalb einer Semiosphäre als ein hybrider „Dritter Raum“, in dem kontinuierlich Prozesse von performativen Translationen und Vermischungen stattfinden, die offenkundig machen, dass die „Ansprüche auf die inhärente Ursprünglichkeit oder ‚Reinheit‘ von Kulturen unhaltbar sind“ (Homi Bhabha). Eine solche Situation wird vor allem in der Dichte der urbanen Milieus sichtbar, jener Mikrokosmen, in denen sich die Heterogenität des Makrokosmos der Region spiegelt und kondensiert. Dies hat für das, was man als Traditionen bezeichnet, konkrete Folgen. Denn die erinnernde Aneignung der Vergangenheit bezieht sich auf mehrdeutige Gedächtnisangebote, die vor allem aufgrund ihrer Widersprüchlichkeit oft verwirrend sein können. Die Vergangenheit erweist sich somit als ein Palimpsest, dem unterschiedliche Erinnerungsschichten eingeschrieben sind. Es gilt, diese Unterschiede nicht nur wahrzunehmen um sie womöglich zu eliminieren, sondern eine solche heterogene, widersprüchliche Vielfalt an Traditionen vielmehr gelten zu lassen und als wesentliche, konstitutive identitätsstiftende Faktoren zu akzeptieren.